Gestern las ich ein Interview mit Jim van Os, einem renommierten niederländischen Psychiater: Unter dem provokanten Titel "Schizophrenie gibt es nicht!" stellt Jim van Os seine Sicht auf die gängige Diagnostik von psychischen Störungen vor (erschienen am 13.11.2019 in der Zeitschrift Spektrum.de, Autor: Wim Swinnen).
Zunächst einmal: Natürlich gibt es Menschen, die unter ausgeprägten Wahnvorstellungen leiden (einem Hauptsymptom von Schizophrenien). Aber da wird es auch schon schwierig, denn Wahnvorstellungen (Psychosen), kommen in unterschiedlichsten Formen und bei diversen Störungen vor. Mir geht es hier auch nicht um das Thema Schizophrenie, das in meiner Praxis kaum eine Rolle spielt - ein Mensch, der unter akuten Wahnvorstellungen leidet, ist kaum in der Lage eine gesprächsbasierte Psychotherapie durchzuführen. Vielmehr geht es mir um die Frage, ob es wirklich so hilfreich ist, psychische Störungen als "Krankheiten" zu bezeichnen. Immerhin ist der Begriff der"Psychischen Störung" längst die offizielle Bezeichnung in der International Classification of Deseases (kurz ICD, dem diagnostischen Standardwerk aller Ärzte und Therapeuten.
Ich möchte das am Beispiel der Depression festmachen. Es kommt häufiger vor, dass Klienten in meiner Praxis beim Erstgespräch erzählen, sie "hätten" eine "Depression". Als Systemiker frage ich dann zweierlei: "Woher wissen Sie das?" und "Wo ist sie denn jetzt? Haben Sie sie dabei?" Was zu einer kleinen Verunsicherung führt (und führen soll). Dem Gesprächsfluss tut das selten Abbruch und die Betroffenen erzählen mir weiter über ihre Symptome, und liefern meistens auch eine eigene Erklärung. Und sollten sie das nicht tun, bitte ich sie ausdrücklich um eine. Warum? Menschen suchen immer nach Erklärungen für Probleme. Wir bilden uns ein, wenn wir nur die Ursache des Übels verstehen würden, hätten wir auch die Lösung. Bedauerlicherweise hilft diese schlichte kausale Logik nicht weiter, denn psychische Störungen sind sehr komplexe Phänomene und lassen sich nun einmal selten so einfach erklären. Vielmehr ist längst wissenschaftlicher Standard, hier mit mehrdimensionalen Erklärungsmodellen zu arbeiten. So werden bei der Entstehung einer Depression immer biologische, aber auch psychische und soziale Wirkungsfaktoren eine Rolle spielen. Viele Betroffene fokussieren aber aus der Alltagslogik heraus hauptsächlich auf die möglichen biologischen Ursachen, sie spekulieren oft auf einen "genetischen" Zusammenhang. Es fallen Sätze wie: "Das liegt bei uns in der Familie", oder "meine Mutter hatte das auch" etc.. Und oft klingt das sehr fatalistisch und resignativ. Was nachvollziehbar, aber dennoch falsch ist. Aber so geht es einem, wenn man etwas "zu haben"glaubt ...
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich verändert sich bei einer Depression die Biologie. Der Gehirnstoffwechsel eines Depressiven sieht deutlich anders aus als bei einem Nicht-Depressiven; das lässt sich heute in bildgebenden medizinischen Messverfahren eindeutig feststellen - falls es eines Beweises bedurft hätte! Menschen, die über depressive Verstimmungen klagen, leiden u. U. sehr - z. B. an Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, aber eben auch an Mutlosigkeit, überzogenen Schuldzuweisungen, einem Gefühl tiefster Hoffnungslosigkeit bis hin zu Suizidgedanken. Es gibt allerdings auch seit Jahrzehnten einen Konsens, dass diese Menschen über eine geeignete psychotherapeutische Behandlung (klassischerweise mit einer Verhaltenstherapie) lernen können, sich aus diesen Zuständen aus eigener Kraft (und mit professioneller Unterstützung des Therapeuten) wieder zu befreien. Das setzt jedoch voraus, dass so etwas wie eine Depression grundsätzlich ein vorübergehender Zustand ist. In jedem Fall ist es für die Betroffenen und für den Verlauf der Therapie viel günstiger, wenn sie hören, dass sie sich in einer - vorübergehenden - Krise befinden, aus der sie auch wieder herausfinden können. Ich frage in diesem Zusammenhang immer nach den Ausnahmen: "War das schon immer so?" oder "Wann ging es Ihnen zuletzt richtig gut?" Es kommt natürlich vor, dass ich mit Klienten rede, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten von Depressionen geplagt werden. Gerade dann ist es wichtig, auf die Gemeinsamkeiten zwischen Diagnose, Erklärung und Beschreibung hinzuweisen und dann auf die Glaubensfrage zu kommen: "Und was glauben Sie, wird es Ihnen irgendwann wieder besser gehen?" - Dann kommt vielleicht die Antwort:"Das weiss ich doch nicht, deswegen bin ich doch bei Ihnen!" - Und wenn ich dann frage:"Also, wenn ich Ihnen sagen würde, dass es eine Chance gibt, würden Sie es dann glauben?" Die Antwort ist natürlich in den allermeisten Fällen ein deutliches "Ja". Dennoch ist es aus systemischer Sicht sehr wichtig, diese Fragen zu stellen. Sie thematisieren etwas, was bei einer - überbewerteten Diagnostik - untergehen muss, nämlich die Überzeugung / Einstellung zu sich selbst / eben den "Glauben" an sich selbst des Betroffenen. Übrigens ist die Diagnostik selbstverständlich nicht das Übel an sich; eine gesicherte Diagnose anhand von einschlägigen Symptomen, ist im allgemeinen wichtig und hilfreich - aber sie kann eben auch, insbesondere wenn sie wie eine Art "Wahrheitsbeweis" missverstanden wird, geradezu fatale Auswirkungen auf Betroffene haben. Dann nämlich, wenn sie als eindeutige Zuschreibung missverstanden wird und nicht als (notwendigen, aber immer auch relativen) Ausgangspunkt einer therapeutischen Behandlung.
Es ist also wichtig, eine Diagnose wie die der "Depressiven Störung" lediglich als eine Information unter wesentlichen anderen Informationen an den Anfang einer therapeutischen Behandlung zu setzen. Von wesentlicher Bedeutung sind neben den abfragbaren Symptomen immer die Lebenswirklichkeit (dazu zähle ich die Biografie, aber im Sinne der "Geschichte", die der Betroffene mir aktuell erzählt, will sagen als wiederum seine derzeitige Deutung der eigenen Biografie) sowie die Beschaffenheit des sozialen Netzwerks. Damit kann man dann arbeiten, wobei es noch einmal aus meiner Sicht ganz wesentlich ist, die jeweilige Störung als Ausnahme, als Krise oder Sonderfall im fortgesetzen Prozess der eigenen Biografie zu begreifen. Ganz salopp gesagt: Selten ist wirklich alles "bescheiden" - oder?! Jedenfalls selten, wenn man dann mal genauer hinschaut. Depressive brauchen dabei kontinuierliche Unterstützung und Ermutigung. Sie müssen bzw. können wieder lernen, dass die Diagnose "Depression" nicht den Charakter eines Fluchs hat, der irgendwie irreversibel über ihnen hängt. Es mag dabei genetische Faktoren geben, aber bislang ist alles Forschen nach Biomarkern vergebens und ich meine, mit Jim van Os, dass das auch so bleiben wird. Menschen sind zu komplexe Wesen und v. a. ist auch die Genetik nichts Statisches, wie in Beton Gegossenes. Vielmehr wird durch neuere wissenschaftliche Studien immer deutlicher, dass die Epigenetik, also die Umwelt(en), in denen die individuelle Genetik lebt, entscheidenden Einfluss auf unsere Entwicklung hat. Das Leben ist ein Prozess! Und Störungen (psychischer, wie auch sonstiger Art) sind per Definition passagere Phänomene, auch sie unterliegen Veränderungen - es sei denn, man würde etwas tun, was dieser Sichtweise diametral entgegensteht: Wie z. B. fest daran zu glauben, dass es keine Veränderungsmöglichkeiten gibt. Aber dann wären Psychotherapien wirklich sinnlos, und das sind sie ja - erwiesenermassen - nicht. Oder?!
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