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AutorenbildDipl.-Soz. Iris Wieg, HPP

Prüfungsangst - und nun?!

Aktualisiert: 20. Apr.

In gewisser Weise handelt es sich bei der sogenannten "Prüfungsangst" um eine

paradoxe Störung, denn die Betroffenen sind häufig sehr gute Schüler bzw. Studenten, die eigentlich sicher sein können, dass sie zumindest keine intellektuellen Schwierigkeiten mit ihrem Lernstoff haben. Umso belastender ist es dann, wenn man feststellen muss, dass es "irgendwie" nicht mehr klappt mit den Prüfungen.


Alles beginnt vergleichsweise harmlos: Man erhält vielleicht in einer Klausur nicht die Note, die man erzielen wollte; vielleicht war man an dem Tag auch nicht so gut "drauf". Das kann mal vorkommen - obwohl es auch Menschen gibt, denen es schwerfällt sich so etwas zu verzeihen. Gerade wenn das so ist, werden sich Betroffene von nun an stärker auf eventuelle Symptome wie Unwohlsein o. ä. selbst beobachten und gleichzeitig ihre Ansprüche

bezüglich der zu erreichenden Note steigern. Auf diese Weise geraten sie sehr schnell in einen Teufelskreis: Je mehr sie sich beobachten, je mehr sie Vorsorge treffen wollen durch z. B. ein noch rigideres Lernregime, desto weniger sind sie bei sich selbst - die Konzentration leidet deutlich, die Selbstaufmerksamkeit steigt weiter, Angst kommt auf und kann sich bis zur Panik steigern, die nächste Prüfung im Eimer.


Absurderweise ist die Prüfungsangst also eine Störung, bei der etwas, was bis dahin sehr gut beherrscht wurde, plötzlich nicht mehr klappt. Das scheint unerklärlich und führt denn auch zu massiven Selbstzweifeln, bisweilen gar zu purer Verzweiflung - insbesondere dann, wenn

das Studium selbst zu scheitern droht, wenn Kommilitonen scheinbar mühelos weiterkommen, wenn die Familie bei jeder Prüfung mitbangt und man selbst trotz erhöhten Lernaufwands keine Verbesserung des Zustands erlebt. Dann kann es zu Selbstabwertungen, zu Essstörungen, zu Schlafstörungen und diversen anderen psychischen und physischen Folgeerscheinungen kommen.


Bei den Betroffenen handelt es sich oft um junge Menschen, die nie zuvor mit einem

Gefühl des Scheiterns konfrontiert waren, und die sich sehr stark über Leistung definieren. Eigentlich könnten sie aufgrund ihrer bislang sehr guten Noten ganz entspannt durch das Studium gehen, sicher in der gewachsenen Überzeugung, den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Allerdings gilt für Betroffene meist, dass sie diese Form der Gelassenheit sehr schnell verlieren oder noch nie besaßen. Bei den sogenannten "Lernfächern" wie Medizin und Jura kommt es bekanntlich zu einer ziemlich radikalen Verdichtung des Lernstoffes, der auch sehr gute Studenten vor grössere Herausforderun-

gen stellt. Einerseits ist das bekannt, andererseits scheint es so, als würde dieses Wissen beim Lernen zu wenig berücksichtigt.


Denn in meiner Praxis erlebe ich viele Betroffene, die sich beim Lernen so verhalten

wie Menschen das angesichts von grossem Stress automatisch tun: Sie versuchen einfach noch mehr, noch länger, noch intensiver zu lernen. Das ist so verständlich wie kontraproduktiv. Wer seine Distanz zum Stoff (und allem, wofür er steht - nämlich dem Studium, der erhofften Zukunft etc.) längt verloren hat, der spielt sich mit solchen übertriebenen Kontrollmethoden nur noch weiter in's Abseits. Das zu erkennen ist die eigentliche Lösung. Es gehört viel Mut dazu, sich selbst mit der Position der Therapeutin zu konfrontieren, die darauf hinweisen wird, dass hier letztlich weniger mehr ist. Denn wie kann das sein?!!! Schließlich geht es um Prüfungstermine, die ganz Zukunft steht plötzlich scheinbar auf dem Spiel... Ja, eben: Kann denn irgendjemand, der so denkt, noch ruhig genug bleiben, um gute Leistungen zu erbringen?


Junge Menschen dürfen ehrgeizig sein und wollen sich bewähren, insbesondere

in den sog. Lernfächern. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen. Problematisch kann es allerdings werden, wenn man der bisweilen kruden Alltagslogik unserer Leistungsgesellschaft auf den Leim geht und glaubt, dass wir uns in schwieriger Lage grundsätzlich "zusammenreißen", "den inneren Schweinehund bekämpfen", "noch eine Schippe nachlegen" etc. müssen. In bestimmten Wirtschaftkontexen wird gar davon gesprochen, "150%" geben zu wollen (rein mathematisch betrachtet wohl ziemlicher Unsinn). Wer dann auch noch den Selbstwert an solchen Maßstäben festmacht, kann in gefährliche Schieflage geraten. Dann droht nicht nur ein Scheitern des Studiums, sondern womöglich das Gefühl als Mensch zu versagen.


Aber zurück zur behaupteten Lösungsmöglichkeit. Es ist zunächst einmal wichtig zu begreifen, dass gerade eine Aufgabe wie die Organisation des Lernstoffes mit etwas wohl überlegter Distanz sehr viel besser gelingt als mit stupidem, zwangsverordnetem Dauerbüffeln, an dessen Ende nur die totale Erschöpfung droht. Es gibt diverse wissenschaftliche Studien, die belegen, dass es notwendig und hilfreich ist, beim Lernen wiederholte kurze Pausen einzulegen, das Essen nicht zu vergessen und nicht zu spät

schlafen zu gehen. Sowohl Lernen als auch Prüfungen gelingen am besten mit einem mittleren Anspannungsniveau. Der Körper ist bekanntlich keine Maschine und Lernstoff läßt sich nicht mit dem Nürnberger Trichter in den Kopf stopfen, sondern muss verarbeitet werden. Gerade in ausgesprochenen Leistungsfächern sollte man daher Lern- und Ruhephasen vorab sorgfältig einplanen. Neben Pausen sind Bewegung und sozialer Austausch wichtiger denn je. Für beides braucht man nicht viel Zeit, aber sie sind entscheidend: So sorgt man dafür, dass die eigenen Ressourcen aufgeladen werden. Sich wochenlang zum Büffeln im stillen Kämmerlein einzuschliessen ist dagegen ein gutes Rezept

zum Scheitern.


Wer den Mut hat, auf diese Weise auf Distanz zum Lernstoff zu gehen, kann sich dem Thema Prüfungen wieder sehr viel ruhiger annähern. Dabei ist es nicht zuletzt auch sinnvoll, die eigenen Leistungsansprüche etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Für wen mache ich dieses Studium (für die Eltern oder für mich selbst)? Wem glaube ich, was schuldig zu sein (Eltern sind in der Regel vor allem daran interessiert, dass ihr Kind glücklich wird - und weniger an einem konkreten Studienabschluss. Und sollte das einmal nicht so sein: Wie lange will man da mitspielen)? Möglicherweise geht es auch darum, sich selbst mit der Tatsache zu konfrontieren, dass man in der Schule zwar immer unter den Ersten war, im Studium aber nicht mehr. So etwas soll vorkommen. Sicher gibt es angenehmere Erfahrungen, aber so ist das Leben! Es geht oft darum, das eigene Mittelmaß akzeptieren zu lernen - das heisst keinesfalls aufzugeben, sondern im Gegenteil, das zu leisten, was man leisten kann und will. Dazu gehört auch, von dem irrigen Vorhaben Abstand zu nehmen, beim Lernen zu jeder Zeit Spitzenleistungen abliefern zu wollen. Das wird unter normalen Umständen kaum möglich sein. Natürlich kann man nachhelfen - "Hirn-Doping" oder auch "Neuro-Enhancement" sind Schlagworte einer Selbstmedikation, die jedoch nicht zu empfehlen ist. Gesünder und für die Langstrecke empfehlenswerter ist es in jedem Fall, sich über seine guten Leistungen zu freuen und immer mal wieder "alles" zu geben - aber eben nicht ständig.


Wer all das beherzigen mag, ist auf einem guten Wege, den Teufelskreis der Prüfungsangst erfolgreich hinter sich zu lassen und mit grösserer Gelassenheit dem Lernen wie auch dem Denken zu begegnen.


Zu beidem hat sich bereits vor 250 Jahren Georg Christoph Lichtenberg geäussert:

"Dass Leute, die so erstaunlich lesen, oft so schlechte Denker sind, kann seinen Grund ebenfalls in der Beschaffenheit unseres Gehirns haben. Es ist ja wahrhaftig nicht einerlei, ob ich einen Satz ohne Mühe lerne, oder ob ich selbst nach meinem System endlich darauf komme. Beim letztern hat alles Wurzeln, beim erstern ist es bloß angeklebt."


Quelle: "Sudelbücher F" (1776-79)

G. Ch. Lichtenberg (1742 - 1799), deutscher Physiker und Meister des Aphorismus



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